Die digitale Revolution in Unternehmen und Organisationen – Zusammenarbeit und Führung auf Distanz

Beispielhafte Veränderungen

In der neuen digitalen Welt verändert sich nicht nur Technik, sondern auch das Miteinander von Personen. Spätestens die Corona-Krise hat die Bedeutung der Digitalisierung deutlich gemacht und ihre verändernden Potenziale. Dazu einige Beispiele:

Bürger und Bürgerinnen werden digital

Die Erwartungen der Bürger an einen einfach zu handhabenden und schnellen digitalen Service nehmen zu. Junge Menschen bevorzugen neue Informations- und Kommunikationskanäle. Partizipation von Bürgern oder Mitarbeitenden bei Projekten erhält neue Möglichkeiten.

In der Zusammenarbeit gibt es einen Paradigmenwechsel

Die wohl größte Veränderung für alle Organisationen ist, dass Arbeitszeiten und Arbeitsorte flexibilisiert werden. Mobiles Arbeiten, Telearbeit, Homeoffice bieten die Chance, berufliche Arbeit, Familie und Freizeit zusammenzubringen. Dies gilt nicht für alle. In der Produktion, zum Teil auch im Service ist weiterhin physische Präsenz gefordert. Und es ist ein zweischneidiges Schwert: Es ermöglicht neue Freiheiten – kann aber auch zu Stress und zur Selbstausbeutung führen. In jedem Fall verändert es die Arbeitsformen. Zusammenarbeit, Kommunikation und Führung geschehen – zumindest teilweise – auf Distanz.

Elektronische Akten und Notizen werden der Normalfall. Technisch ist dies kein großer Schritt – psychologisch sehr wohl, wenn plötzlich alles papierlos funktionieren soll. Mitarbeiter müssen sich auch auf ein höheres Tempo einstellen. Ein Informationsfluss in Echtzeit verlangt schnelles Reagieren. Ein langfristiger Trend ist klar: Einfache Tätigkeiten werden zukünftig die Algorithmen übernehmen. Für die Personen bleiben die komplexen Aufgaben, die innovatives Miteinander-Denken und -Probieren erfordern.

Lernen und Personalentwicklung werden neu formatiert

Die digitale Welt verlangt nach neuen Kompetenzen. Effektives Arbeiten mit unterschiedlichen Apps, wenn möglich etwas Programmieren. Englisch als Zweitsprache wird immer selbstverständlicher, ist auch unabdingbar, wenn man das Internet nutzen will. Wichtiger als das Üben von IT-Programmen sind vermutlich die sogenannten Schlüsselfähigkeiten, ohne die Fachkompetenzen wirkungslos bleiben. Dazu gehört vor allem, was Pädagogen „Lernen lernen“ nennen – also die Fähigkeit, sich schnell neues Wissen anzueignen, sei es in Netzwerken oder durch Recherchieren im Internet. Interdisziplinäres Denken und Arbeiten ist entscheidend für die Lösung komplexer Probleme. Dies verlangt eine gut entwickelte Kommunikationsfähigkeit und die Kompetenz, mit unterschiedlichen Menschen und Gruppen kooperieren zu können. Die Digitalisierung ermöglicht auch neue Lernformen: e-learning, web based trainings. Vor allem die Aneignung von Wissen in dem Moment, in dem es gebraucht wird – Learning on demand. Personalentwickler stellt dies vor neue Herausforderungen. Die Mitarbeitenden ab und zu auf ein Seminar zu schicken, wird kaum mehr ausreichen. Vielmehr geht es um gezielte, situationsbezogene Lernformen für einzelne und Teams, die das „selbstorganisierte, kreative Handeln in offenen Problem- und Entscheidungssituationen“ (John Erpenbeck) stärken.

Generationen „ticken“ digital unterschiedlich

Junge Azubis kommen als „digital Natives“ in eine Organisation – „Generation Mobile“ trifft Festnetz-Telefonierer. Neu daran ist, dass Ältere von Jüngeren lernen. Ein konstruktives Beispiel: Die Jungen gestalten die Einführung einer neuen Software und schulen dann die Älteren. Das wäre aktives Generationenmanagement. Für Altgediente vielleicht anfangs gewöhnungsbedürftig, aber auf Dauer eine Chance für eine Kultur des Miteinander.

Führung steht vor großen Herausforderungen

Für Führungskräfte stellen sich mindestens folgende Herausforderungen: Wie koordiniere ich meine Leute, wenn viele davon kaum noch im Büro sind? Wie spüre ich, dass ein Mitarbeiter in die innere Kündigung rutscht, wenn ich nur noch telefonisch und via Video mit ihm verbunden bin? Wie sorge ich für Zusammenhalt, eine Corporate Identity in den Teams angesichts von Fluktuation, Teilzeit- und Telearbeit? Wie kontrolliere ich die Arbeitsergebnisse, dort wo Vertrauen allein nicht ausreicht? Wie sichere ich den in der Wissensgesellschaft notwendigen Austausch zwischen den Mitarbeitenden, wenn die sich nur noch im Netz begegnen?

Kommunikation bekommt neue Möglichkeiten und einige Risiken

Die Chancen digitaler Kommunikation werden oft aufgezählt: Entfernungen spielen keine Rolle, Kommunikation geschieht in Echtzeit, unendliche viele können gleichzeitig erreicht werden, Inhalte können mit Bildern, Diagrammen, Filmen angereichert, alles kann in großer Menge gespeichert werden. Soweit so gut. Übersehen wird dabei, dass die virtuelle Kommunikation nicht die Qualität des direkten Miteinander-Sprechens von Angesicht zu Angesicht hat. Körpersprache – Mimik, Gestik, Blickkontakt, Nähe – ist zentraler Teil von Kommunikation. Manche Wissenschaftler vermuten bis zu 55 % (dann noch 38 % paraverbal und nur 7 % verbal – Albert Mehrabian). Über Körpersprache wird vor allem die Glaubwürdigkeit von Aussagen überprüft. Pointiert hat der Psychologe Fritz Perls formuliert: „Der Körper lügt nie“. Physische Nähe, der Blick in das Antlitz des anderen verringert Konflikte und stärkt Empathie. Direkte Begegnung und Beziehung entsprechen unserer evolutionsbiologischen Prägung.

Digitalisierung hat soziale Folgen

Wie immer bei starken gesellschaftlichen Umbrüchen gibt es Gewinner und Verlierer. Junge Menschen, die im digitalen Zeitalter aufwachsen, eine gute Ausbildung haben, von neuen Technologien fasziniert sind und gern Neues lernen, werden profitieren. Sie schätzen die vielen Möglichkeiten und nutzen sie privat und beruflich. Dagegen stehen als „Modernisierungsverlierer“ ältere, schlecht ausgebildete und ängstliche Menschen. Künstliche Intelligenz wird Arbeit nicht völlig abschaffen, aber stark verändern. Menschen werden sich überlegen müssen: „Was kann ich besser, als es ein Algorithmus kann?“ (Christoph Keese). Wollen wir die Verlierer nicht lediglich sozial versorgen, müssen wir Menschen digital befähigen.

Werte und Umgangskultur verändern sich

Es gibt Befürchtungen, dass die digitale Technik problematische Nebeneffekte hat: Manche sind mehr mit ihrem Smartphone beschäftigt als mit den Kunden. Kommunikation wird oberflächlicher und oft auch konfliktreicher. Blitzschnell verschickte Mails an möglichst viele und an den Vorgesetzten im CC erhöhen nicht den Informationsfluss, sondern verhindern ihn und programmieren oft genug Ärger, der dann wieder mühselig face to face bereinigt werden muss. Man kann diese Befürchtungen abwiegeln als konservative Kulturkritik von Altvorderen. Die Probleme bestehen trotzdem. Eine neue Kulturtechnik – und das ist die digitale Kommunikation – braucht eben auch eine Kultivierung und nicht nur technische Kompetenzen. Es geht um Mailkultur, Besprechungskultur, Sprachkultur. Menschen sind durch und durch soziale Wesen, durch eine lange Evolution getrimmt auf Begegnung und Beziehung, auf Berührung und Nähe. Informelle Kommunikation am Kaffeeautomaten und die kleinen Feste, wenn eine Kollegin Geburtstag hat, sind in der digitalen Arbeitswelt noch wichtiger, als sie früher schon waren. Große Organisationen sind auch mit dem konfrontiert, was der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen „die große Gereiztheit“ nennt: „Heute ist jeder — potenziell — ein Sender, kann sich mit seinem Smartphone zuschalten, seine Ideen und Empörungsangebote barrierefrei einem Publikum unterbreiten, das dann womöglich selbst aktiv wird“. Der Evolutionsbiologe Jared Diamond formuliert eine ernstzunehmende Warnung: „Gegenüber Worten auf einem Bildschirm unhöflich und abschätzig zu sein ist viel einfacher als gegenüber einem lebenden Menschen, dem man ins Gesicht sieht. Und wenn wir uns daran gewöhnt haben, auf Entfernung beleidigend zu sein, fällt der nächste Schritt, auch gegenüber einem lebenden Menschen eine Beleidigung auszusprechen, leichter“.

 

Leitideen, Prinzipien, Vorschläge für Führen auf Distanz

Viele haben die digitale Revolution mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg im 15. Jahrhundert verglichen. Damals erforderte die neue Technik Lese-Kompetenz. Organisationen brauchen heute digitale Kompetenz. Dies ist allerdings deutlich mehr als Laptops, Smartphones und Apps zu bedienen – für die Mitarbeitenden und die Führungskräfte geht es um nicht weniger als Zusammenarbeit neu zu konzipieren. Dazu acht Eckpunkte:

In Beziehungen investieren – nicht nur in Technik

Führen und Zusammenarbeiten heißt vor allem mit Menschen umgehen, Beziehungen aktiv gestalten. Es braucht Präsenz und Ansprechbarkeit – also auch fixe Präsenzzeiten. Kundenorientierung und Mitarbeiterorientierung müssen ausbalanciert werden. Für Führungskräfte gilt als Grundregel:  Zuerst Beziehung herstellen und Vertrauen aufbauen – dann Führen auf Distanz. Wird nicht mehr Zimmer an Zimmer gearbeitet, sondern digital auf Distanz, dann braucht es gute Vorbereitung und Disziplin. Und es braucht die Einschätzung, wann und wie oft die direkte, analoge Kommunikation doch notwendig ist. Wenn schon Menschen, womöglich nach langer Anfahrt, von Angesicht zu Angesicht zusammensitzen, dann darf nicht passieren, dass diese in dicken Akten blättern und ab zu auf ihre Smartphones schielen. Dann geht es um methodisch kreatives Streiten und Entwickeln mit neuen Formaten – eher als Workshop denn als Sitzung.

Haltungen überwinden die Distanz

In der Zusammenarbeit sind die Haltungen der Beteiligten immer noch wichtiger als die verwendete Technik. Dies gilt für alle, aber besonders für die Führungskräfte. „Ich kenne meine Kolleginnen und Kollegen und ich interessiere mich für sie – nicht nur im Blick auf ihre Kompetenzen, sondern auch auf ihre Persönlichkeit.“ Wenn das Grundhaltungen sind, dann kann die Technik die Distanzen überwinden – Zusammenarbeit wird konstruktiv und effektiv sein. Fehlen diese Haltungen, dann nützt die modernste und teuerste Technik der Welt nichts.

Die Kommunikation strukturieren

Miteinander sprechen praktizieren wir alle von klein auf. Eine einfache Sache ist Kommunikation deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil: Verstehen ist die Ausnahme und Missverständnisse sind die Regel belegen die Kommunikationswissenschaften eindeutig. Selbst das einfache Vier-Augen-Gespräch zwischen zwei Menschen ohne externen Störungen und mit derselben Muttersprache braucht Sorgfalt: Zuwendung, Blickkontakt, Konzentration, Zuhören, Nachfragen, Feedbackschleifen… Werden wichtige Dinge per Telefon oder über Videokonferenz oder mit verbundenen Computern im Netz kommuniziert, dann muss die Sorgfalt noch einmal deutlich höher sein. Wichtig ist es, die Informationsflut zu begrenzen. Es braucht eine abgesprochene Mail-Kultur. Eine hohe Bedeutung hat die informelle Kommunikation auf dem Flur und beim Kaffeeautomaten. Entfällt diese, weil die Mitarbeitenden zuhause sind, dann fehlt entscheidendes. Nichts spricht gegen den Einsatz moderner Kommunikationsmittel von der kurzen SMS bis zur langen Videokonferenz mit vielen Teilnehmern. Allerdings geht es um eine Unterscheidung: Wenn ich die Zustimmung und das Mittragen von Entscheidungen will, oder wenn ich kreativ Neues gestalten will – dann sollte ich mich zu den Anderen begeben, den direkten Kontakt suchen. Worte geben Hinweise: Contactus im lateinischen heißt Berührung.

Den Umstieg in die digitale Welt aktiv gestalten

Es gibt „digital Natives“, die mit jeder Hardware oder Software in kürzester Zeit klarkommen. Für die Mehrheit der Mitarbeitenden und der Führungskräfte gilt das nicht. Tendenziell sind die Jüngeren fitter – aber immer stimmt auch das nicht. Alter ist jedenfalls keine Ausrede für digitale Inkompetenz. Es braucht Schulungen und gemeinsames Üben. Ohne Verpflichtung und Verbindlichkeit funktioniert das digitale Unternehmen nicht. Wenn man papierlos arbeiten will, dann müssen alle mitmachen. Führungskräfte müssen sich unbedingt Kompetenzen für Video-Konferenzen und E-collaboration aneignen.

Bewährte organisationale Praktiken sorgfältig wahrnehmen

Im Bereich von Führung und Zusammenarbeit gibt es bewährte Methoden und Instrumente, die nicht erst mit der Digitalisierung kamen. Wenn es um Zusammenarbeiten mit Distanz geht, wenn Teilzeitarbeit ausgeweitet wird, wenn die Arbeitsräume weit entfernt sind, dann bekommen diese deutlich mehr Bedeutung. Dazu gehören: Stellenbeschreibungen und glasklare Aufträge, vereinbarte Regelkommunikation, Teambildung und Teamklausuren, gemeinsame Kalenderplanung, klare Stellvertretungen, unbürokratisches Berichtswesen, regelmäßige Mitarbeiter-Gespräche, Zielvereinbarungen, gut gestaltete Kick-offs von Projekten. Sitzen Mitarbeitende acht Stunden am Tag nahe beieinander und die Chefin mitten drin, dann können Missverständnisse schnell ausgeräumt werden. Man merkt, dass sich ein Konflikt anbahnt und kann gegensteuern: „Leute, wir müssen kurz zusammensitzen und ein paar Dinge klären“. Auf Distanz ist das schwierig und deshalb braucht es konsequent und kompetent die genannten Praktiken.

Strukturen der Selbstorganisation aufbauen

Seit dem Beginn der Industriegesellschaft funktionierten Organisationen mit einem Standort, mit fixierten Arbeitszeiten, klaren Zuständigkeiten und hierarchischen Strukturen. Im digitalen Zeitalter ist das alles in Auflösung begriffen. Nicht für alle aber für viele. Den klassischen Doppelpack Command and Control – können Sie vergessen. Vertrauen wird Kontrolle ersetzen. Selbstorganisation, Selbstführung, Selbstverantwortung in überschaubaren Teams sind angesagt. Machen wir uns nichts vor: Für jede Organisation ist das eine Revolution.

Zusammenhalt braucht Begegnung

Der Zusammenhalt in Organisationen funktionierte in der Vergangenheit einfach deshalb, weil die meisten Mitarbeitenden zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren. Dazu kamen Regeln, Vorschriften, Qualitäts-Standards – viel Bürokratie. Unternehmen, verteilt auf verschiedene Häuser und mit einer großzügigen Homeoffice-Regelung, müssen sich etwas einfallen lassen, um das Gemeinsame und damit eine effektive Zusammenarbeit zu gewährleisten. In erster Linie braucht es gut strukturierte virtuelle Plattformen für den bereichsübergreifenden Wissensaustausch. Verbindende Ziele für die zukünftige Entwicklung müssen für alle klar sein. Gemeinschaftserlebnisse, bei denen sich die Mitarbeitenden begegnen, haben im digitalen Zeitalter eine höhere Bedeutung als früher. Bewährt hat sich, dass Themen, die für alle interessant sind, in Foren oder bei „Themen-Tagen“ miteinander diskutiert werden.

Nicht bei der Technik sparen

Die Arbeit der Zukunft braucht eine gute IT-Ausstattung – Hardware und Software. Datensicherheit und Datenschutz müssen unbedingt gewährleistet sein. Zwar hat praktisch jeder Computer eine Videokamera, aber Videokonferenzen in dafür eigens eingerichteten Räumen mit entsprechenden Bildschirmen und Kameras erleichtern die Kommunikation. Wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zukünftig vor allem komplexe Probleme lösen müssen, dann brauchen sie nicht nur die neue Technik aus dem Silicon Valley, sondern auch kreative Methoden und Materialien. Der Ansatz des „Design Thinking“, der auch aus diesem innovativen Tal kommt, weist dafür einen Weg. Man glaubt es kaum, aber dabei werden Elemente und Techniken aus dem Kinderspielzimmer auf einmal hilfreich: Legosteine, Draht und Knet, Tapeten und Farben, das Erzählen von Geschichten. Prototyping heißt das Zauberwort. Es meint Lösungsideen visualisieren oder als Geschichte erzählen oder kreativ gestalten. Geht es um innovative Lösungen, dann ist mit den Händen denken auch in der modernen Welt offensichtlich immer noch hilfreicher als mit Maschinen hantieren.

Die digitalisierte Organisation ist eine Chance für Kunden und Mitarbeitende. Allerdings wird kein Algorithmus den Umstieg quasi automatisch steuern. Dazu braucht es Phantasie, Mut zum Experimentieren und schnelles Lernen aus Fehlentwicklungen.

Meinrad Bumiller

 

Führen als Handeln – nicht als Technik

Handeln (griechisch: Praxis) ist zu unterscheiden vom Herstellen und Machen (griechisch: Poiesis). Es ist ein Beziehungs-Geschehen zwischen Menschen.

Herstellen bezeichnet die Prozesse im Handwerk und in der Technik. Es geht um Messbarkeit, Produktivität, Verdinglichung. Im Vordergrund steht eine Mittel-Zweck-Relation.

Diese Unterscheidung geht zurück auf den griechischen Philosophen Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) und wurde für unsere Zeit von der Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) in ihrem Werk Vita activa (ursprünglich: The human condition) entfaltet. In der Moderne allerdings wird Praxis mehr und mehr zur Poiesis – zum Machen und Herstellen.

Wenn Führen Handeln von und mit Personen ist, dann sind Begriffe wie Führungs-Technik oder Führungs-Instrumente unsinnige Begriffe. Natürlich müssen Führungskräfte auch etwas herstellen – z. B.: Entscheidungen, Zielvereinbarungen, die Steuerung von Projekten, Kontrollsysteme etc.

Es gibt eine handwerkliche Seite der Führung. Allerdings ist das Führen von Menschen wesensmäßig eben nicht Herstellen sondern Handeln. Und wer es primär als ein Machen und Herstellen betreibt, hat geölte Rädchen in der Organisation aber nicht kreative Menschen.

Handeln (Praxis), entfaltet im Blick auf die Führung von Menschen, beinhaltet vielfältige Dimensionen. Dazu einige Thesen als Anregung.

  1. Handeln ist gleichbedeutend mit Sprechen, Kommunizieren, Miteinander reden. Führen geschieht immer im Dialog.
  2. Handeln braucht das Gespür für den entscheidenden Augenblick (Kairos). Führen verlangt eine Kairologie, das Wissen um den richtigen Zeitpunkt – im Gegensatz zur fixierten Arbeitszeit (Chronologie). Es geht um eine aufmerksame Spontaneität, um Achtsamkeit für die jeweilige Situation.
  3. Handeln ist nicht auf einen Zweck ausgerichtet wie das Herstellen, sondern ist sich selbst Zweck.
  4. Handeln geschieht immer in Freiheit. Man kann jemand zwingen, etwas zu machen aber niemanden zwingen zu handeln. Deshalb ist Handeln auch unsicherer, ja riskanter als Herstellen. Führen heißt überzeugen nicht anordnen.
  5. Handeln schafft Verantwortung mündiger und kreativer Personen – das ist etwas anderes als Zuständigkeit. Neudeutsch: Empowerment.
  6. Handeln geschieht im öffentlichen Raum, in der Polis, auf der Agora, dem Marktplatz. Führungs-Handeln schafft einen Raum für das Handeln der Mitarbeitenden, für ihre Kreativität und Produktivität, für ihr Lernen und ihre Entwicklung (Unternehmens-Kultur).
  7. Handeln ereignet sich immer im Plural (men not man). Handeln braucht Perspektivenwechsel, den Austausch von Wissen und schafft dadurch kollektives Wissen (Dia-Logos = Weisheit zwischen Personen).
  8. Handeln wird machtvoll nur als gemeinsames Handeln einer Gruppe, eines Teams. Führer kennen ihre Leute, leben und kämpfen mit im Team. Miteinander Handeln erfordert Vertrauen.
  9. Handeln erschafft nicht Produkte sondern Geschichten. Geschichten vom Anfang, von der Gründung, von einer gemeinsamen Reise, von Erfolgen und vom Scheitern… Die kollektiven Erfahrungen werden einander erzählt und dadurch erinnert (community of memory).
  10. Handeln von Menschen birgt Überraschungen – deshalb: kein Master-Plan, keine Rezepte, vielmehr gemeinsame Wegsuche. Heute: agile Führung.
  11. Handeln lebt aus der Haltung der Geburtlichkeit (Natalität): einen Anfang machen, initiativ werden, etwas initialisieren. (Lat. agere in Bewegung setzen). Geburtlichkeit widersetzt sich der Berechenbarkeit und der Planbarkeit. Gegen Statistik, Prognosen und die Diktatur der Algorithmen besteht sie aus Spontaneität und Entwicklung, aus Potenzialen und dem Möglichkeits-Sinn. Führungshandeln kann im Sinne von Sokrates als Mäeutik – Geburtshilfe verstanden werden: nicht etwas schaffen oder machen, sondern etwas ermöglichen und unterstützen.
  12. Handelnde (Führende) müssen wissen, dass Getanes unwiderruflich ist. Beim Herstellen kann ich reparieren. Es braucht deshalb in der Zusammenarbeit die Kraft des Verzeihens.
  13. Handeln ist unabsehbar und ungewiss. Erst aus der Macht des Versprechens erwächst Sicherheit (Vereinbarungen, Verträge, Verlässlichkeit, Recht).

Meinrad Bumiller

 

Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er habe die Macht, heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.

            Hannah Arendt

 

In den meisten Wirtschaftsuniversitäten wird das Management noch heute als Bündel von Techniken wie beispielsweise der Budgetierung gelehrt. Selbstverständlich weist das Management wie jede andere Tätigkeit seine eigenen Werkzeuge und Techniken auf. Doch so wie die Harnanalyse trotz ihrer unzweifelhaften Bedeutung nicht die wesentliche Funktion der Medizin darstellt, machen die Techniken und die Verfahren nicht das Wesen des Managements aus. Die wesentliche Funktion des Managements besteht darin, Wissen produktiv zu machen. Mit anderen Worten: Das Management ist eine soziale Funktion. Und in seiner Praxis ist das Management tatsächlich eine »freie Kunst«.

Peter Drucker

 

Der Output eines Managers ist gleich dem Output seines Verantwortungsbereiches, plus dem Output benachbarter Bereiche unter seinem Einfluss.

Motivation kommt von innen heraus; alles was ein Manager tun kann, ist eine Umgebung zu schaffen, in der sich motivierte Mitarbeiter entfalten können.

Andrew Grove

 

Und eine Lust ist´s, wie er alles weckt

Und stärkt und neu belebt um sich herum,

wie jede Kraft sich ausspricht, jede Gabe

gleich deutlicher sich wird in seiner Nähe!

Jedwedem zieht er seine Kraft hervor,

die eigentümliche, und zieht sie groß,

Lässt jeden ganz das bleiben, was er ist;

Er wacht nur drüber, dass er´s immer sei

Am rechten Ort; so weiß er aller Menschen

Vermögen zu dem seinigen zu machen.

Friedrich Schiller:  Max Piccolomini
über Wallenstein,
Erster Aufzug, vierter Auftritt

Führen als Dienen – Überlegungen

Prickelnd kling das nicht. Klar, jede Führungskraft muss viele Dienstleistungen für die Mitarbeitenden erbringen und wird in gewisser Weise diese auch als ihre „Kunden“ verstehen. Aber Dienen? Diener, auch Dienerinnen sind nun mal in der Hierarchie ganz unten – wenn sie überhaupt darin erscheinen. Die Führenden sind oben.

Historiker weisen darauf hin, dass Europa über viele Jahrhunderte eine Feudalgesellschaft war mit ausgeprägter gesellschaftlicher Rangordnung. Das ist Gott sei Dank vorbei. Aber der Begriff Dienen ist davon kontaminiert. Niemand will ein Diener sein und niemand will sich bedienen lassen! Denn wir haben ziemlich schnell unangenehme Bilder im Kopf: Der steife Butler, der den Whisky serviert; Livrierte Lakaien um den Königsthron; Personen, die sich tief beugen und auf keinen Fall aufschauen. In jedem Historienfilm haben wir das gesehen. Solche Bilder wirken lange nach. In den USA gibt es eine andere Geschichte. Das Selbstverständnis war von Anfang an, dass alle gleich sind: Bürger und Bürgerinnen. Wenn jemand einen Dienst für andere erbringt, dann ist das eine Leistung, die honoriert wird. Man ist nicht Diener sondern Geschäftspartner. Die Unterschiede beim Verdienst und beim Besitz waren natürlich auch in den USA riesig. Und die Schwarzen waren nicht nur Diener sondern Sklaven. Aber das Wort Dienen hat nichts Ehrenrühriges. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass es ein Amerikaner war, der das Konzept „Servant Leadership“ entwickelte.

Was heißt Dienen als Führungskraft?

Worte wie Service oder Dienst-Leistung sind eher Ablenkungsmanöver. Deshalb ein anderer Vorschlag: Dienen heißt nicht, sich vor Personen verbeugen, sondern sich einer Sache verschreiben. Eine Aufgabe verstehen größer als das eigene Ego und sich in den Dienst dieser stellen, ohne auf Vergünstigungen und Belohnungen zu schielen. Dienen heißt Leidenschaft entwickeln für eine Mission. (Manchmal hat dies auch mit Leiden zu tun.)

Für Führungskräfte heißt Dienen sich darum kümmern, dass alle – Teams, Abteilungen, Organisationen – für die größere Sache arbeiten können. Die Menschen wollen dies. Damit sie es auch können mit ihrer ganzen Kraft, braucht es einige Rahmenbedingungen – genauer formuliert eine Organisations-Kultur. Spielräume, Selbstführung, Selbstverantwortung gehören dazu. Gleichberechtigtes Mitreden und Streiten um die beste Lösung ebenfalls und noch einiges mehr.

Diese Kultur aufzubauen, ist Führungsaufgabe, ist der Dienst der Führenden. Dies ist primär eine Kultur-Aufgabe und nicht Organisieren oder Kontrollieren. Kultur ist ein land-wirtschaftlicher Begriff – colere im Lateinischen meint bebauen und pflegen. Landwirte und Gärtner wissen, dass dies ein langer und langsamer Prozess ist. Führen als Dienen ist damit eher ein Gegenbegriff zum modernen Managen.

Meinrad Bumiller